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Aufnahme-Studio Christoph Stickel
Analoge Bandmaschinen sind hier unerlässliche Werkzeuge. LowBeats hatte den Remaster-Spezialisten Christoph Stickel im Interview (Foto: C. Stickel)

Interview mit Tonmeister Christoph Stickel: „Die Magie schwingt immer mit“

Wir hatten schon mehrfach darüber berichtet, denn da brodelt etwas bei diesem Thema: Bandmaschinen und Masterbänder. Vor fünf Jahren war das noch ein zartes Pflänzchen auf der High-End-Messe, jetzt ist ein Wald daraus geworden – die Anbieter von Hard- und Software überbieten sich, die Preise sind zum Teil exorbitant. Darin muss ein Zauber liegen. Oder ein Missverständnis.

Also nachgefragt. Bei jemandem, der es wirklich wissen muss – Christoph Stickel. Er ist bescheiden, das müssen wir nicht sein und behaupten: Stickel zählt zu den fünf Menschen, die die meisten Masterbänder in der Hand gehabt haben. Wir reden dabei nicht über Kopien der Kopien, sondern tatsächlich von jenen Bändern, die bei Keith Jarrett, Oscar Peterson und Leonard Bernstein im Tonstudio rotierten. Und Stickel hat all diese Masterbänder noch einmal besser gemacht. Er ist Remasterer, hat viel Auszeichnungen bekommen, unter anderem für die Überarbeitung des legendären “Köln Concert” von Keith Jarrett. Näher dran geht also kaum. Wir sprachen mit Christoph Stickel über Klang-Ästhetik und die Magie der alten Bänder.

Das Interview mit Tonmeister Christoph Stickel

Christoph Stickel
Christoph Stickel ist einer der renommiertesten Remaster-Spezialisten weltweit. Der Wahl-Wiener gab uns Einblicke in die Welt der großen Aufnahmen – und wie sie zu erhalten sind (Foto: C. Stickel)

LowBeats: Bekommen Sie als „alter Hase“ noch eine Gänsehaut, wenn Sie mit Ihren Händen ein legendäres Masterband berühren? Oder sind Sie ein abgebrühter Profi?

Stickel: Die Magie schwingt immer mit. Aber recht schnell springen die praktischen Überlegungen an. Wie könnte ich genau dieses Band abspielen, welche Vorgaben haben die Tonmeister der Vergangenheit dokumentiert?

LowBeats: Im audiophilen Sinne – müssten Sie nicht auch gleich die originale Bandmaschine mitgeliefert bekommen, die eben passgenau für das besagte Band justiert wurde?

„Studer – der Goldstandard für den kreativen Einsatz“

Stickel: Schöner Gedanke – und ja: Ich habe hier im Studio natürlich viele unterschiedliche Bandmaschinen. Aber die Erfahrung hat mir gezeigt, dass das beste Werkzeug, immer jenes Equipment ist, das man am besten beherrscht und das die höchste Vielfalt an Feineinstellungen zulässt. Ich vertraue hier auf eine Studer A820. Das ist das letzte große Mastermodell mit der besten Elektronik und Mechanik von Studer. Sehr einfach und direkt lassen sich hier verschiedene Einstellungen ausprobieren. Das ist der Goldstandard, den man als Tonmeister kreativ einsetzen kann und der schlicht die besten Ergebnisse bringt. Natürlich wäre die originale Bandmaschine der Aufnahme unter den gleichen Einstellungen sehr authentisch. Aber die Parameter ändern sich. Vor allem die Bänder altern, da ist eher eine gewisse Breitbandigkeit der Möglichkeiten gefragt.

LowBeats: Für unsere Vorstellungskraft – wie kommen die Bänder zu Ihnen? In einer gepanzerten Limousine mit Sicherheitskräften?

Stickel: Ganz so heftig ist es nicht. Aus den Archiven werden Kisten per Kurier verschickt. Die sind natürlich umfassend geschützt, zwischen 600 und 1000 Bänder werde ich auf diesem Weg schon bekommen haben, kein einziges Mal gab es magnetische Einflüsse durch den Transport, die den Klang hätten beeinflussen können. Zudem sind die Kisten natürlich gegen mechanische Belastung und Feuchtigkeit geschützt.

LowBeats: Das hört sich etwas langweilig an, wie ein simpler Warentransport. Da hätten wir uns schon ein Abenteuer wie Indiana Jones auf der Suche nach dem vergessenen Schatz vorgestellt…

Stickel: Da muss ich Sie enttäuschen. Aber zum Teil fahre ich auch selbst zu den Archiven und verstaue die Bänder im Kofferraum. Das geht sehr gut, solange kein Ozean dazwischenliegt. Aber ich will in den USA auch einmal bei einem Transfer dabei sein; den Plan hege ich noch.

LowBeats: Wie groß ist die Spannbreite des Ausgangsmaterials, gibt es dramatische Qualitätsunterschiede?

„Aus den verschiedenen Generationen das Beste herausholen“

Stickel: Natürlich. Aber man sollte sich von der Vorstellung lösen, dass magische Dinge mittransportiert werden. Wenn für uns heute eine Aufnahme so legendär, so wertvoll erscheint, dann muss doch auch der technische Aufwand gigantisch gewesen sein? Das stimmt nicht immer. Aber die Dinge, die ich in Händen halte, sind außergewöhnlich gut – und jeden weiteren Aufwand beim heutigen Mastering wert. Die Bänder sind Dokumente ihrer Zeit, damit auch ihres Alters, ihrer Abnutzung, ihrer Lagerung. Deshalb erreicht mich in der Regel nicht das absolute, einzige Masterband, sondern Versionen – das Original, die Schnitt-Fassung, die Überspielungen als Produktionsmaster. Hier ist ein Teil meiner Arbeit auch immer wieder, aus verschiedenen Generationen das Beste herauszusuchen.

LowBeats: Wobei sich nicht alle Künstler wirklich um ihren Nachlass gekümmert haben. Sie haben auch den Live-Mitschnitt von Beethovens neunter Symphonie unter Wilhelm Furtwängler aus dem Bayreuther Festspielhaus neu gemastert. Eine unfassbar intensive Aufnahme, der berühmte Monolith in der Diskographie. Aber Furtwängler war die Aufnahme doch eher egal?

Stickel: Mag so sein, wahrscheinlich sogar. Wenn Bänder wie dieser Mitschnitt von nicht so guter Qualität sind, dann entscheide ich mich für das maximal Sauberste. Das grenzt schon an die Restauration. Dann sind die analogen Möglichkeiten nett, aber die digitalen hochpotent. Hier ist die Verantwortung des heutigen Tonmeisters gefragt. Wie mit den Nebengeräuschen, dem Rauschen, den Verzerrungen umgehen? Man könnte mit den heutigen Mitteln sehr viel erreichen. Da stellen sich ethische Fragen nach der Authentizität. Aber wir reden hier nur von einem kleinen Teil meiner Arbeit – das meiste ist puristische Arbeit, von analog zu analog.

Aufnahme-Studio Christoph Stickel
Hier lässt es sich arbeiten: Stickels Arbeitsplatz, an dem immer mehrere Tonbandmschinen stehen (Foto: C. Stickel)

LowBeats: Haken wir bei der Frage nach ihrem Berufsethos nochmals nach. Einige Ihrer Kollegen bieten einen gewaltigen technischen – und digitalen – Fuhrpark auf. Was ist erlaubt, was sinnvoll? Heiligt das Ergebnis alle Mittel?

Stickel: Gute Frage und sehr wichtig. Wenn ich mich an meine Arbeit an den Furtwängler-Bändern erinnere, dann gibt es noch einen weiteren wichtigen Aspekt: Die meisten von uns konnten Furtwängler nicht live erleben. Dann ist das Medium der Aufnahme auch Zeitdokument und im besten Sinne eine Zeitreise. Es ist auch Teil meiner Profession, sich in den Moment hineinzudenken. Wie ist das alles entstanden? Auch die Ahnen unter den Tonmeistern waren Profis ihrer Zeit; das ist alles mit hohem technischem Einsatz vonstattengegangen.

Bernstein remasterd
Großtat: Stickel hat für Sony die alten CBS-Bänder von Leonard Bernstein in die Neuzeit transferiert. Ein Ritterschlag. Dumme Frage: Hätte das Sony/CBS nicht mit eigenen Mitteln übernehmen können? Sicherlich, aber das Renommee von Christoph Stickel gaben den Ausschlag (Cover: amazon)

LowBeats: Nun endet die Zeitreise aber oft an praktischen Zwängen. Wie stringent und helfend sind für Sie die Aufzeichnungen, sind die Ihnen vorligenden Dokumentationen zur Entstehung der Schlüssel zum audiophilen Sesam?

Stickel: Nein, nicht immer. Die Lage ist manchmal perfekt, manchmal unerklärlich. Natürlich gibt es die Notizen auf dem Pappkarton der Originalbänder. Aber ich bin in der glücklichen Lage, auch einen guten Kontakt zu meinen Mentoren zu pflegen – die man anrufen kann. Da gab es beispielsweise eine Fehlverschaltung bei einer Aufnahme, einen tontechnischen Kniff – was wir nur gemeinsam und Generationenübergreifend lösen konnten. Über die Jahre bin ich zu einem gewissen Purismus gekommen. Vor Jahrzehnten hatten wir beispielsweise die „Comedian Harmonist“ restauriert – was wir da nicht alles angestellt haben, um die zum Singen zu bringen. Das würde ich heute nicht mehr so umsetzen. Mono ist Mono – künstliches Stereo finde ich aus meiner Ethik selten zweckdienlich. Das können sie auch auf Mehrkanal übertragen – das ist in den meisten Fällen ein Gimmick. Schauen und hören Sie sich „Kind of Blue“ von Miles Davis an. Da gibt es tausend Versionen, viele unterhaltsam, aber sicher nicht authentisch.

LowBeats: Und mit der aufkommenden Digitalisierung Mitte der 1980er-Jahre war auch nicht alles Gold, was auf Silberscheibe glänzte…

Stickel: Richtig – obwohl man da nicht nachtragend sein sollte. Vergessen Sie nicht, wie traurig Anfang der 90er die digitale Wandlung war, kein Vergleich zu heute. Die Mittel sind besser geworden, klar pro Klangqualität.

LowBeats: Wie sehen Sie sich in diesem Kontext selbst? Sind Sie als Tonmeister eher Handwerker oder Künstler?

„Schönheitschirurg? Das ist definitiv nicht meine Aufgabe“

Stickel: Natürlich Handwerker – aber man muss einen Sinn für die künstlerischen Absichten haben. Ich schätze Manfred Eicher, habe mich oft mit ihm ausgetauscht und auch Gespräche mit Carlos Kleiber geführt. Das war immer hilfreich und erhellend. Ich erinnere mich noch an ein Mastering einer Aufnahme von Friedrich Gulda, den großartigen Pianisten. Bei den Bändern zu Beethovens „Diabelli-Variationen“ ratterte es, wie eine Schreibmaschine, das war überaus hart. War das eine Geschmacksfrage des damaligen Tonmeisters? Ich hatte dann Kontakt zum Erben des künstlerischen Vermächtnisses von Gulda gesucht. Dessen Aussage hatte mich in ihrer Klarheit überrascht: „Ich glaube, Friedrich wollte es bewusst so klirren lassen.“ Man darf nicht den Gestaltungswillen des Künstlers vor den Mikrofonen unterschätzen. Vor allem darf man sich selbst nicht in die Rolle eines Schönheitschirurgen erheben. Das ist definitiv nicht meine Aufgabe.

LowBeats: Das klingt resolut – aber es gibt doch sicherlich Grenzbereiche?

Stickel: Natürlich. Nicht jedes Band verfügt heute noch über den Informationsgehalt, den es einmal bei seiner Aufnahme hatte. Wenn ein Band Höhenverluste hat – klar, dann muss ich nachregulieren. Stark sind auch Probleme bei Hydrierungen: Bänder ziehen Feuchtigkeit, es lösen sich die Schichten ab. Jetzt nicht lachen – aber hier hat sich über die Jahre ein Verfahren etabliert: das Backen von Bändern…

LowBeats: Oha, genau jetzt sehe ich Sie in der Küche am Backofen…

Stickel (lacht): Nein, nein – das wäre ein Klischee. Aber feuchte Bänder „schmieren“ über den Tonkopf. Deshalb legen wir Tonmeister sie über einige Tage in einen Dehydrator. Das ist ein professioneller Aufbau, als wenn man Obst trocknet. Alles bei feinster Regulierung, das kann ein Backofen nicht. Aber bei jedem dritten Band steht diese Vorarbeit an.

LowBeats: Gibt es weitere Probleme, auf die Sie stoßen? Bänder scheinen alles andere als edel zu altern?

„Bänder haben im Alter nicht den Charme von reifem Rotwein“

Stickel: Stimmt, alte Bänder haben nicht den Charme von reifendem Rotwein. Überraschend häufig muss man sich auch die Frage nach der richtigen Tonhöhe stellen. Viele Bandmaschinen haben ihre Taktung aus dem Stromnetz genommen. Damals war das nicht exakt. Wenn ich das heute mit einer geeichten Bandmaschine abspiele, dann treten Schwankungen auf. Da hilft mir nur die digitale Tonhöhen-Analyse. Das ist aber nur ein Werkzeug zur Visualisierung – das audiotechnische ReMastering findet natürlich rein analog statt. Ältere Kollegen nutzten dazu die Stimmgabel.

LowBeats: Ich habe auch einige Ihrer Kollegen in den großen Tonstudios befragt – und dabei immer wieder eine gewisse Trauerarbeit gespürt: Die alten Bänder werden hinwegschwinden, der Weg alles Irdischen. Ist Ihre aktuelle Arbeit damit auch eine kulturelle Rettungsaktion vor dem Verblassen?

Stickel: So dramatisch würde ich das nicht sehen. Zudem sind die Archivare ja nicht passiv. Regelmäßig werden von den großen Aufnahmen analoge Kopien angefertigt. Damit wird das Ergebnis zwar nicht besser – aber es ist eine wichtige archivarische Tat und vor allem im gleichen Medium. Bei digitalen Datensätzen bin ich mir in ihrer Haltbarkeit und Abspielbarkeit weit weniger sicher.

LowBeats: Feinfrage und Glaubensfrage zugleich – wenn Sie einen digitalen Datensatz erstellen, schwärmen Sie dann in der Formatfrage für PCM oder DSD?

Stickel: Grundsätzlich denke ich rein analog. Aber meine Auftraggeber haben spezielle Wünsche. Alle PCM-Auflösungen über 192 Kilohertz bei einem Tonband als Ausgangsmedium halte ich für sinnfrei. Tower Records hatte mich einmal beauftragt, die großen Eterna-Aufnahmen aus der DDR für eine Veröffentlichung aus SACD zu remastern. Ja, DSD gefällt mir sehr gut, was aber eine eher emotionale Entscheidung ist, zumal es für Profis sehr schwer ist, gute DSD-Wandler zu bekommen.

LowBeats: Gibt es denn eine Art Lieblings-Projekt?

Stickel: Klar. Beim Thema Remastering bin ich hier besonders stolz, einen Großteil der Pat-Metheny-Bänder in den Händen gehalten zu haben, die bei ECM veröffentlicht wurden.  Und dann gibt es noch das Projekt um Bruckners 8. Symphonie mit Sergiu Celibidache. Celibidache hasste Tonaufnahmen. Einerseits, weil sein Intimgegner Karajan damit so reich wurde – vor allem aber widersprach es dem Transzendenz-Gedanken des Dirigenten. Musik konnte für ihn nur in einem Raum, zur gleichen Zeit, in der Gemeinschaft von Hörern möglich sein. Ich steckte in einem ethischen Dilemma, habe mich aber trotzdem für den Auftrag der Münchner Philharmoniker entschieden. Der künstlerische, dokumentarische Ausnahmerang ist zu groß…

Bruckner remasterd
Ganz frisch veröffentlicht: Bruckners achte Symphonie, live aus dem Herkulessaal im April 1985 (Cover: amazon)

LowBeats: Herr Stickel, wir danken für das Gespräch.

Damit aber endet die Geschichte nicht. Denn schon bald wollen wir viele Blick über die Schulter von Christoph Stickel in seinem Wiener Studio werfen und stellen die Frage: 
Wie viel Einsatz muss ein heutiger Tonmeister beim Transfer der analogen Bänder aufbringen? 
Spannend.

Autor: Andreas Günther

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Der begeisterte Operngänger und Vinyl-Hörer ist so etwas wie die Allzweckwaffe von LowBeats. Er widmet sich allen Gerätearten, recherchiert aber fast noch lieber im Bereich hochwertiger Musikaufnahmen.