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Cassandra Jenkins MyLight
Die New Yorker Sängerin und Multiinstrumentalistin Cassandra Jenkins verbindet auf „My Light, My Destroyer" einen künstlerischen Blick auf die Welt mit wohldosierter Extravaganz und zeitlos-schönen Songwritertugenden – und bleibt dabei hinreißend natürlich und unaufgeregt (Foto: P. Ghana)

Cassandra Jenkins “My Light, My Destroyer”: das Album der Woche

Ob griffiger Indie-Rock, verträumt-melancholischer Folk-Pop oder jazzig-minimalistische Abstraktionen: Die amerikanische Songwriterin Cassandra Jenkins begeistert auf ihrem dritten Album „My Light, My Destroyer“ mit einem ebenso breiten wie perfekt akzentuierten Soundspektrum – und mit einem ganz eigenen, unaufgeregt-vertrauten Tonfall.

Wenn ich mal eben mit der Tür ins Haus fallen dürfte: Schon lange habe ich keine Songwriterin mehr gehört, die Subtil-Kunstvolles so unprätentiös und selbstverständlich vor dem Hörer ausbreitet, derart natürlich aufspielt und einen so entspannten Musizier- und Erzählstil pflegt wie Cassandra Jenkins. Nichts wirkt bei der 40-jährigen Sängerin und Multiinstrumentalistin aus New York in irgendeiner Form inszeniert, sondern alles klingt hier so natürlich und normal, als würde gerade eine allerbeste Freundin bei einem kleinen (und fabelhaft, weil räumlich gut gestaffelten und so luftig wie klangfarbensatt gemischten) Hauskonzert gastieren.

Zum entscheidenden Kriterium wird dabei das Adjektiv „normal“. Denn normal sein, Normalität an sich, ist in Zeiten wie diesen so ziemlich das Unnormalste, was sich denken lässt. Schließlich hat heutzutage alles bedeutungsvoll, herausragend, perfekt zu sein, „gorgeous“, „brilliant“ oder „fantastic“; mindestens aber „phenomenal“ – drunter macht es die heutige Welt und der Großteil ihrer acht Milliarden Bewohner ja nicht mehr.

Mit all dem hat Cassandra Jenkins nichts am Hut. Aufgewachsen in einer Musikerfamilie (die Eltern spielten unter anderem auf Kreuzfahrtschiffen), besuchte sie zunächst eine Privatschule für Kunst und Design in der New Yorker Upper East Side, wo sie schnell zur großen Außenseiterin inmitten all der „Rich Kids“ von Manhatten avancierte. Und regelmäßig erhielt sie dort Einträge wegen „Tagträumerei“, wie sie kürzlich dem Kulturkanal des Deutschlandfunks verriet „Meine Mutter ist nicht nur Musikerin, sondern auch studierte Naturwissenschaftlerin, und zuhause führten wir endlose Gespräche über den Kosmos und die Beschaffenheit der Welt“, erinnert sie sich an ihr Erwachsenwerden. „Aber das ‘Tagträumen’ haben mir meine Eltern nie ausgetrieben. Und jetzt bin ich froh, dass ich so sein kann wie ich bin – und nicht, was die Schule aus mir machen wollte.“

Ohne größere Blessuren der Rhode Island School Of  Design entronnen, arbeitete sie danach unter anderem als Redaktionsmitarbeiterin beim renommierten Magazin „The New Yorker“, ehe sie 2013 mit einer ersten EP ins Musikbusiness einstieg. 2017 folgte ihr Albumdebüt „Play Till You Win“, 2021 inmitten der weltweiten Corona-Turbulenzen der Zweitling „An Overview On Phenomenal Nature“. Dass sie dazwischen nach einer massiven Lebenskrise zwei Jahre in einem Blumengeschäft in der Upper West Side jobbte – davon kündet auf „My Light, My Destroyer“ beispielsweise „Delphinium Blue“; gewidmet dem faszinierenden Blauton des Rittersporn.

Die Musik von Cassandra Jenkins “My Light, My Destroyer”

Themen für ihre Lieder findet Cassandra Jenkins also längst nicht nur im Zwischenmenschlichen und ist auch heute noch weit mehr eine beobachtende, analysierende, fragende und rätselnde Vertreterin ihrer Zunft. Nun also „My Light, My Destroyer“, mit dem sie sich vom noch eher konventionellen Folkrock ihrer Anfangsjahre und von Vergleichen mit Joni Mitchell oder auch Suzanne Vega (ob eines stets kontrollierten, leicht unterkühlten Storytellings) zunehmend entfernt und ihren Stil in abstraktere Gefilde ausweitet. Die Bläser etwa haben ihre Herkunft eindeutig im Jazz und das Piano wirkt so delikat, als säße hier Kurt „Lambchop“ Wagner an den Tasten. Wagner, der Großmeister der Reduktion in Sachen Alternative, Country und Soul – nachzuhören etwa in „Devotion“, dem Opener ihres zehn „richtige“ Songs und drei atmophärischen Intermezzi starken Sets, der zarte Tastensounds mit stimmungsvollen Bläsern mischt.

Aber keine Bange: Cassandra Jenkins erlaubt sich durchaus auch gefällige Folkpop-Muster, doch verleiht sie diesen stets eine kammermusikalische Finesse. Aus dem Indie-Rock fließen Gitarrenriffs ein, so kantig wie grobkörniges Schleifpapier, und drum herum vollenden ein paar atmosphärische Synthieloops und gemütliche, aber konturenscharfe Schlagzeugrhythmen die Arrangements. Ein zarter Bass zieht schließlich rotweintrunken seine Kreise, und zwischendrin funken Field Recordings allerlei Szenen in die Kompositionen hinein: Zuggeräusche etwa oder Soundschnipsel von Flugbegleitern. Dazu singt Cassandra mit warmer, erwachsener Altstimme, aus der Melancholie spricht, ebenso wie Dankbarkeit, Sehnsucht und Lebensklugheit.

Cassandra Jenkins MyLight Cover
Cassandra Jenkins My Light, My Destroyer erscheint bei Dead Oceans im Vertrieb von Cargo Records und ist als Stream, Download, CD, LP sowie als Sonderedition in „pink clear wave“-Vinyl erhältlich (Cover: Dead Oceans)

Ihr zur Seite stehen eine Reihe von Freunden aus den Nischen der internationalen Alternative- und Indie-Rock-Szene: El Kempner von Palehound, Meg Duffy von Hand Habits, Isaac Eiger (früher bei Strange Ranger), das Hushpuppy-Duo Katie von Schleicher & Zoë Brecher oder Daniel McDowell von Amen Dunes, Produzent und Instrumentalist Josh Kaufman, Produzentin Stephanie Marziano und Jenkins’ Freundin, die Regisseurin/Schauspielerin/Journalistin Hailey Benton Gates.

So entstand ein Reigen höchst abwechslungsreicher Songs. „Aurora IL“ etwa mit psychedelisch schimmernden Saiten- und Tastensounds, in „Clams Casino“ dengeln die Gitarren so herzhaft als gehörten auch Scott Devendorf und Bryce Dessner von The National zur Studiobesetzung. Noch dynamischer, „härter“ klingt „Petco“, das gar auf die Pixies verweist, während das von dezenten Orchesterklängen begleitete „Delphinium Blue“ auch von Laurie Anderson stammen könnte. Alles zusammen: Songs voller Sophistication und Tiefgang, die als literarisch-philosophische Miniaturen über das Universum, die Erdatmosphäre, Eidechsen, Mythologien aus aller Welt und das Mysterium des Lebens funktionieren – genau so gut aber auch als „nur“ exquisit-formvollendetes Songwritertum zwischen Dream-Pop und Indie-Rock.

 

Cassandra Jenkins
“My Light, My Destroyer”
2024/07
Test-Ergebnis: 4,5
ÜBERRAGEND
Bewertungen
Musik
Klang
Repertoirewert

Gesamt

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Autor: Christof Hammer

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Seit vielen Jahrzehnten Musikredakteur mit dem Näschen für das Besondere, aber mit dem ausgewiesenen Schwerpunkt Elektro-Pop.