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Sennheiser fertigt seine Kabel-gebundenen Kopfhörer allesamt im irischen Tullamore (Foto: A. Günther)

Reportage Sennheiser Tullamore: deutsche Kopfhörer aus Irland

Der Preis für den teuersten Kopfhörer der Welt liegt bei 69.000 Euro. Gefertigt in einem Glaskubus, in der Mitte von Irland und von nur einem Mann. Gleich nebenan entstehen die Legenden für Normalsterbliche, der HD 600, der HD 800, der HD 820. Wir durften in das Werk von Sennheiser Tullamore hineinschauen. Hier, weit weg vom Ur-Standpunkt Hannover, entstehen alle Kabel-getriebenen Modelle von Sennheiser. Und dennoch lässt dieser Standort überall die Wurzeln der bald 80-jährigen Company erkennen – und erlaubt dem Besucher, an der Zukunft des Kopfhörer-Klangs teilzuhaben.

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Schlichts, aber höchst praktisch: die Fertigungshalle von Sennheiser Tullamore (Foto: A. Günther)

Tullamore hat 16.000 Einwohner. Nicht viel. Ebenso dezent sind auch die Temperaturen – maximal 22 Grad werden im Hochsommer erreicht. Was die berühmte Whiskey-Destillerie vor den Toren der Kleinstadt so attraktiv macht: Man muss keine Energie für Kühlung verschwenden. Gefühlt die Hälfte der werktätigen Bevölkerung arbeitet in der Brennerei. Die andere Hälfte bei Sennheiser? Nicht wirklich. Tullamore Dew ist größer und präsenter im Stadtbild. Auf jedes Steak gibt es, gefragt oder nicht, eine Pfeffersoße, mit eben dem weltberühmten Whiskey.

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Das ist der mit Abstand bekanntestes Ort in Tullamore – die Destillerie von Tullermore Dew (Foto: A. Günther)

Sennheiser hingegen sieht man im Stadtbild kaum. Was auch daran liegt, dass hier nicht die sichtbaren, meist mobilen Kopfhörer-Modelle entstehen, sondern die kabelgebundenen. Das jedoch in stattlichen Größenordnungen. In der Sennheiser-Factory wird 24 Stunden rund um die Uhr gearbeitet, in drei Schichten und an sieben Tagen der Woche. Alles in einer einzigen, gewaltigen Halle. Die Profis nennen es eine „One-Roof“-Architektur. Hohe Sicherheitsstandards sind vorgegeben, man kommt weder leicht noch unerkannt hinein. Wie im Innersten des Vatikans. Bevor ich über die Schwelle durfte, musste ich meine Passdaten übermitteln.

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Pat Fulton ist sogenannter „Plant Manager“ und hat bei Sennheiser Tullamore das Sagen (Foto: Sennheiser)

Sennheiser Tullamore: alles mit Kabel

Doch kein Zeichen für einen kühlen Empfang. Im Gegenteil. Pat Fulton, der „Plant Manager“, begrüßt mit Handschlag. Seit 25 Jahren ist er hier, stetig aufgestiegen und für alle eine Vertrauensperson. Trotz der klinisch reinen Umgebung spürt man den herzlichen Umgang miteinander. Wobei der Faktor Mensch weit weniger präsent ist als lange Produktions-Bänder, voll verglast und vollautomatisch. Wer genauer hinschaut, kann sogar Aufschriften und Warnhinweise in deutscher Sprache finden. Schnell versteht man, warum wir beim Eingang auch gefragt wurden, ob jemand einen Herzschrittmacher trägt. Hier wird mit kräftigen Magneten gefertigt; die Roboter-Straßen sind offenbar weniger empfindlich als die Menschen, die sie bedienen.

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Der Autor inmitten der Fertigungsstraßen (Foto: Sennheiser)

Hinten rechts in der Halle gibt es ein kleines Areal für die Handarbeiter. Vielleicht 15 Prozent der Gesamtfläche. Hier wird gelötet, verpackt, geprüft. Was bei Kopfhörern leichter fällt als bei Standlautsprechern. Einfach einen HD 600 in eine Klangkabine auf den Kunstkopf mit Mikrofonen setzen, Tür zu und den Testcomputer anwerfen. Ein Tischkühlschrank wäre größer. Alles fließt. Vor allem die Bänder. Die sind in ihrer Grundarchitektur linear zur großen Halle ausgerichtet. Wenn ein Bauteil einmal die Straße ändern muss, dann verbinden Brücken die ebenerdigen Glaskästen. Gelegentlich kommt ein Ingenieur vorbei, sehr entspannt, auch wenn ein rotes Licht aufleuchtet und nervös blinkt – „keine Panik“, Jim hat alles im Griff.

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Die Palette der bei Sennheiser Tullamore hergestellten Kopfhörer (Foto: A. Günther)

Was geschieht in den langen Bahnen? Alles, wofür der Mensch entweder zu ungeduldig oder zu unsensibel ist. Hier werden Folien gestanzt, die schließlich zu Membranen geformt den Kern des Kopfhörerklangs ausmachen. Kupferfäden, dünner als ein menschliches Haar, verwebt eine andere Maschine zu Antriebsspulen. Die Elemente sind so klein, dass nur Mikroskop-Kameras mit Monitoren außen an den Glaskästen sie visualisieren können. In die aber kaum jemand schaut. Die erste Linie wurde hier 2004 aufgestellt – und sie läuft und läuft, ohne Unterlass.

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Jeder Journalist musste einen HD 600 zusammensetzen. Es ist schwieriger als gedacht… (Foto: Sennheiser)
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Am Ende wird alles sorgfältig gereinigt und verpackt (Foto: Sennheiser)
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Fertig: HD 600 selbst gebaut (Foto: Sennheiser)
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Nur Damian darf an den teuersten Kopfhörer der Geschichte

Gut 100 Menschen arbeiten bei Sennheiser Tullamore (also keinesfalls die Hälfte der Bevölkerung), mit äußerst unterschiedlichen Biografien. Was aber alle vereint, ist Team-Spirit, dessen sich viele Hersteller rühmen, aber hier ist es mit den Augen zu greifen – und mit der Statistik. Faktisch gibt es kaum Kündigungen, die Firmenzugehörigkeit erstreckt sich mitunter von der Ausbildung bis zur Rente. Pat Fulton scherzt: Die versammelte Erfahrung liegt hier genau in dieser Minute bei 400 Jahren. „Ich könnte den Job nicht machen, ohne das tolle, eingespielte Team.“

Natürlich sind nicht alle gleich. Besonders offenbar wird dies bei Damian. Er verbringt die meiste Zeit in einem Glaskubus. Er ist der Einzige, der sich die Konzentration und die Fingerfertigkeit erarbeitet hat, den HE 1 zu fertigen. Das ist nicht nur der teuerste Kopfhörer in der Firmengeschichte, sondern der teuerste Kopfhörer überhaupt und weltweit. An den „Orpheus“ erinnern sich viele, der HE 1 hat ihn beerbt und kostet derzeit 69.000 Euro. Damian haftet mit seinem guten Namen dafür. Er allein fertigt das Traumschiff, er allein setzt die Röhren in den massiven Block aus Carrara-Marmor. Die sind natürlich auf Federn gelagert und mechanisch entkoppelt. Der zweite Schritt der Verstärkung findet im Hörer selbst statt – mit MOS-FETs in Class A in unmittelbarer Nähe zur platinbedampften elektrostatischen Membran.

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Das ist er, der legendäre Sennheiser Orpheus 2 HE 1. Elektrostat-Kopfhörer plus Class A Röhrenverstärker. Fertigung auf Bestellung, eine Anzahlung von 10.000 Euro erwünscht (Foto: A. Günther)

Ist das eine Inszenierung für die Luxussüchtigen? Nein, das Know-how wird auch die Kopfhörer in tieferen Preisschichten erreichen. Für die Mess-Fanatiker gibt es als Zugabe den geringsten Verzerrungsgrad, der je bei einem Spielgefährten der Musikproduktion gemessen wurde: 0,01 Prozent bei einem Kilohertz, 100 dB SPL. Kann man das hören? Ich durfte ihn aufsetzen und wurde mit dem HE 1 allein gelassen. Ich habe selten bis nie ein unaufgeregteres, entspannteres, reicheres Klangbild erlebt.

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Handverlesene SE 802 S-Röhren kommen im Class-A-Kopfhörer-Amp zum Einsatz. Er liefert die notwendige Hochspannung von 780 V für den Betrieb des Elektrostaten sowie die Polarisationsspannung von 650 V (Foto: Sennheiser)

Ja, ich würde meinen Tesla Cybertruck, den ich nicht habe und nicht will, dafür eintauschen. Katie Melua hat sich einen HE 1 vor laufender YouTube-Kamera aufgesetzt und die Faszination sehr treffend zusammengefasst: „It is mind-blowing.“ Gregory Porter wurde emotionaler: „Ich fühle mich, als würde Nat King Cole auf meiner Schulter sitzen.“ Natürlich freut sich Sennheiser über solche Statements. Das sind Superstars, die keinem Hersteller, für keine Geldsumme, Honig um das Ego schmieren müssten.

Der HE 1 entsteht absolut linear im Manufaktur-Sinn nur durch die Expertise und den Einsatz eines Mannes, eben Damian in seinem Glaskubus. Hinter dem aber ein gewaltiges Forschungsteam steht und ein Weltkonzern. Was einerseits den Preis erklärt und den bewusst klein gehaltenen Output. Die Fertigung beginnt erst, wenn der Auftrag vorliegt – und eine erste Geldsumme geflossen ist. „Nach Fertigstellung nehmen wir erneut mit Ihnen Kontakt auf und bitten um Überweisung der Restsumme.“

Wer kauft so etwas? Die Scheichs, die Russen? Zumindest letztere nicht. Sennheiser hat sich schnell und komplett aus dem Russland-Geschäft zurückgezogen. Die ethischen Maßstäbe sind hoch und unverrückbar. Schon seit der Firmengründung – und jetzt, wenn nicht sogar stärker, seit dem Verkauf der Consumer-Sparte an den Schweizer Hörgerätehersteller Sonova.

Die Schweizer haben das Sagen – und wissen um den Sennheiser-Kult

Ohne von falschem Nationalstolz geplagt zu sein, drängt sich doch die Frage auf: Wie deutsch tickt Sennheiser mit seinen Kopfhörern noch? Die Schweizer wären dumm, würden sie die Wurzeln nach Wennebostel bei Hannover kappen. Hier hat alles angefangen, 1945. Im nächsten Jahr wird großer Geburtstag gefeiert – und ein Teil des Teams sitzt noch immer im legendären „Labor W“. Um die Ecke entsteht das Equipment für die Profis, Mikrofone und Konferenzsysteme. Die Fertigung der Bluetooth-Kopfhörer wurde schon lange nach China ausgelagert, die Wandler mit Kabel und Klinke entstehen eben in Tullamore.

Weil die neuen Besitzer in der Schweiz die steuerlichen Vorteile in Irland ausschöpfen wollen? Nein, stimmt nicht – die Factory wurde schon 1991 aufgebaut, also zu Lebzeiten des Firmengründers Fritz Sennheiser und unter der Ägide seines Sohnes Jörg. Heute führen die Enkel das Imperium mit einem Umsatz von 467 Millionen Euro im Geschäftsjahr 2022. Das ist stolz, aber dennoch nur ein Krümel im Vergleich zu Sonova, die 3,7 Milliarden Schweizer Franken in den Büchern protokollieren. Was trotz der Unterschiede überrascht: Der Markenkern, die Identität von Sennheiser, wirkt nicht wie von einer Axt gespalten.

Der Verkauf der Consumer Electronics im Jahr 2022 ist überraschend undramatisch abgelaufen. Hinter den Kulissen und eben in den Bilanzen existiert ein klar getrenntes Geschäft. Nach außen hin wird aber die Legende als Einheit hochgehalten, die Webseiten schütteln einander die Hand und spielen sich potenzielle Käufer zu. Sonova wäre dumm, den Markenkern, das Image, das Signet von Sennheiser auch nur sanft anzutasten.

Wie fühlen sich die Profis in Irland? Der Machtwechsel ist auch hier sehr geschmeidig über die Bühne gegangen. Das gleiche Logo, das gleiche Lebensgefühl. Nur, dass gelegentlich ein neuer Chef vorbeischaut. Der heißt Martin Grieder und gilt hausintern als ebenso zukunftsbewusst wie umgänglich. Praktisch: Grieder ist Schweizer und britischer Staatsbürger, also ein Weltmann, der auch Sennheiser global aufgestellt sehen will.

Was natürlich uns, als audiophile Fans direkt zu der Frage führt: Macht Sennheiser auf diesem Weg auch klangliche Kompromisse? Gibt es einen populären Supersound, von der KI mit Algorithmen verkaufstüchtig gemacht? Natürlich nicht. Linearität ist der unverrückbare Markenkern. Aber mit der Chance zur Individualisierung.

Doch das wäre eine weitere Reportage. Am besten mit einem Test der neuen Modelle Momentum und Accentum. Haben wir. Plus einem Interview mit dem deutschen Kenner der Soundsignatur von Sennheiser. Seine prophetischen Worte: Der Bluetooth-Standard wird stetig besser – Sennheiser sieht sich als Speerspitze, vielleicht wird Bluetooth zeitnah das high-endige Potenzial eines Kabels übertreffen. Prophetie oder Provokation? Alle Facetten im zweiten Teil der großen Sennheiser-Story.

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Autor: Andreas Günther

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Der begeisterte Operngänger und Vinyl-Hörer ist so etwas wie die Allzweckwaffe von LowBeats. Er widmet sich allen Gerätearten, recherchiert aber fast noch lieber im Bereich hochwertiger Musikaufnahmen.